Aus gegeben Anlaß durch den Tod meines Bruders  Karl-Heinz  

 

Trunksucht: Die letzte Qual des Alkoholikers                      

Immer mehr kommen auf die Intensivstation

 

Intensivstation einer städtischen Klinik in einer Großstadt: Von 15 Patienten, die eingeliefert werden, sind drei bis fünf, bis zu einem Drittel also, keine Infarktpatienten, keine Unfallopfer, sondern Alkoholiker. Sie sterben einen häßlichen Tod. Häufigste Todesursache ist eine unstillbare Blutung in der Speiseröhre. Die Speiseröhre blutet aus den erweiterten Venen der Speiseröhrenwand; es sieht aus wie Krampfadern am Bein. Eine winzige Verletzung, ein Stück Apfelkerngehäuse kann die Venen ritzen, dann beginnt die innere Blutung.

Der Alkoholiker bemerkt sie nicht. Das Blut tropft in den Magen, läuft in den Darm. So vergeht ein Tag, vergehen zwei Tage, der Alkoholiker merkt es erst spät, und viele merken es gar nicht mehr. Sie dämmern hinüber, verbluten innerlich. Erreicht der Patient die Klinik bekommt er Bluttransfusionen. Der Arzt führt eine aufblasbare Sonde in die Speiseröhre ein, die blutenden „Krampfadern“ werden abgedrückt. Das geht einmal, das geht ein zweites Mal, manchmal sogar ein drittes Mal. Danach ist es aus.

Es ist der häufigste Tod des Alkoholikers in der Klinik. Der Kranke hat einen Gummischlauch in der Speiseröhre, der durch die Nase eingeführt wurde. Am Ende der Sonde hängt ein Gewicht, um einen ausreichenden Zug zu gewährleisten und die Krampfadern abzudrücken. Der Patient liegt kraftlos, im Bett. Er ist bei Bewußtsein.

Einige solcher Alkoholiker erscheinen noch aus eigenem Antrieb, andere schickt der Hausarzt, eine dritte Gruppe bringt die Rettungswache, Und häufig kommen sie direkt von der Arbeitsstelle, aus den Betrieben.

Wenn die Alkoholiker so in die Klinik kommen oder eingeliefert werden, verträgt der Magen schon kein Essen mehr, die Magenschleimhaut rebelliert, verwehrt durch Erbrechen erneute Zufuhr von Alkohol. Dann kann der Blutalkoholspiegel nicht mehr auf der Höhe gehalten werden, den der Alkoholiker zum „Wohlbefinden“ braucht. Er fällt in einen nichtgewollten deliranten Zustand, wird nervös, sieht weiße Mäuse, andere, Tierchen, Doppelbilder, hat Halluzinationen. Die „Penner“ sind auf der Intensivstation unterrepräsentiert. Sie schlafen wohl schon mal auf der Trage ihren Rausch aus, wenn ein Passant die Polizei oder die Rettungswache alarmiert hat, aber am nächsten Morgen bekommen sie ein Frühstück und dann gehen sie davon. Die Alkoholiker auf der Intensivstation stammen aus anderem Milieu; Alkohol ist seit langem kein Unterschichtsproblem mehr,

Sie kommen auf der Trage an und wirken wie schwanger. Der Bauch ist überdimensional, eineinhalb Meter Umfang oder gar mehr. Der Rest des Körpers ist extrem abgemagert, nur Bauch und Beine sind dick, prall gefüllt mit Wasser. Der Arzt sticht in den Bauch und läßt acht, zwölf, ja 15 Liter bernsteinfarben helle Flüssigkeit ablaufen. Der Bauchumfang geht zurück, das Wasser drückt nicht mehr auf das Zwerchfell, der Patient kann erst mal wieder Luft holen.

Geht es gut, anfangs geht es gut, dann wird versichert, den Patienten zu entwöhnen. Medikamente können über die Krise hinweghelfen. Dann wird der Patient an ein Spezialkrankenhaus überwiesen und ist schließlich soweit wieder hergestellt, daß er für einige Zeit wieder leben, in den meisten Fällen aber heißt das: weitertrinken kann. Da wird es immerhin verständlich, wenn ein Arzt dann einmal aus der Rolle fällt, denn zu 95 Prozent, sagen die Ärzte, kommen sie alle wieder. Und dann sind alle Betten belegt, und der Arzt sagt, er sei schließlich selbst schuld, solle aufhören zu saufen, dann brauche er keine Klinik. Und man kann sich fragen, ob es angesichts der Überbelegung, der intensiven Pflege, der teuren Blutkonserven und angesichts der „selbstverschuldeten“ Krankheit noch lohne, den Aufwand vorzunehmen. Schließlich ist der Patient unfähig, auch nur einen Arm zu heben, unfähig, Blase und Darm zu kontrollieren. Er wird gesäubert und trockengelegt wie ein Baby. Die Kraft zu essen und zu trinken ist dahin. Er muß künstlich ernährt werden. Die Kräfte nehmen weiter ab. Dämmerzustände und klares Bewußtsein lösen einander ab, durch viele dieser Wechsel muß er hindurch. Und fast alle beteuern bis zum Ende, kaum etwas getrunken zu haben, vielleicht mal ein Bierchen wie jeder andere auch. Jene, deren Leberzellen nicht mehr arbeiten, gleiten in den Dämmer, ins Koma, (die zweithäufigste Todes-Ursache). Die anderen, die innerlich verbluten, erleben es wach und bewußt.

Die jüngsten, die es betrifft, sind 18 Jahre. Sie haben schon während der Schulzeit begonnen. Die letzte, die hier gestorben ist, war eine Frau Mitte zwanzig. Sie hat es voll bewußt erlebt. Sie sagte: „Ich habe nicht gewußt, daß man wirklich daran sterben kann.“

Verfasser Ernst Klee   / übernommen Werner Raichle